Sag (nicht), wer du bist!

Noch einmal über die Familien von Russlanddeutschen, denen die Übersiedlung nach Deutschland als Spätaussiedler verwehrt wurde, und die Ergebnisse der Volkszählung.

Volkszählung
Die Volkszäler haben 2021 bestimmt nicht alle Deutschen gefunden. (Foto Anton Denisow/RIA Novosti)

Höchste Priorität für die Bundesbeauftragte

Die Geschichte um die umstrittenen Kriterien der Bestätigung des Bekenntnisses zur deutschen Identität interessiert nicht nur die Russlanddeutschen, die gerade eine Absage erhalten haben, sondern auch offizielle Personen. So rief die Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Natalie Pawlik, MdB, in einer Pressemitteilung vom 22. Februar zur Analyse der Praktiken bei der Bearbeitung der Anträge von Spätaussiedlern auf. „Die Voraussetzungen für die Aufnahme von Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen müssen an die aktuelle Situation sowie die Lebensrealität der Betroffenen angepasst werden. Zum einen geht es um die Berücksichtigung eines einmal abgegebenen „Bekenntnisses zu einem nichtdeutschen Volkstum“ und zum anderen um das kriegsbedingte Verlassen der Ukraine durch die Antragsteller. Beides führt zu zunehmenden Ablehnungen von Anträgen sowie Ängsten und Enttäuschungen bei den Betroffenen“.

Darüber hinaus beschränkt sich die Angelegenheit offensichtlich nicht nur auf Anträge. Der Apparat der Bundesbeauftragten beschäftigt sich mit diesem Problem. „Als Beauftragte der Bundesregierung nehme ich die Situation und die Schicksale der Betroffenen sehr ernst. Deshalb arbeiten mein Team und ich auf Hochtouren an Lösungen der beiden Problempunkte im Sinne der Betroffenen. Dies hat bei uns gerade höchste Priorität“, so die Beauftragte abschließend.

Schlechte Zahlen, schlechte Prognosen

Aber wie es immer so ist, wenn man an einem Fädchen zieht, kommt ein ganzes Knäuel Probleme zutage. Es gibt Schwierigkeiten, die von der Auslegung der Regeln für die Anerkennung der deutschen Identität ausgehen. Diese Frage liegt auf der „deutschen Seite“ und kann nur dort geklärt werden. Aber Probleme mit dem Bekenntnis gibt es auch im Ausreiseland. Denn unter dem Begriff „Bekenntnis“ versteht die bürokratische Maschinerie nicht nur die von einer Person deklarierte eigene Identität, sondern auch ihre Anerkennung im Gegenzug durch den Staat – alle Dokumente, in denen die Nationalität angegeben wird. Und damit steht es in Russland nicht zum Besten.

Dieses Problem findet in den immens niedrigen Ergebnissen der russischen Volkszählung bei einer Reihe von Nationalitäten seinen Ausdruck. Darunter auch bei den Deutschen. Wie konnte es passieren, dass sich die deutsche Bevölkerung in Russland innerhalb von zehn Jahren um die Hälfte verringert hat, wie aus der Volkszählung hervorgeht? Und warum geben die Experten in den Fragen zur nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung sehr pessimistische Prognosen ab, was die Zahlen in den Umfragebögen angeht?

Berechtigte Kritik

Es scheint so, als ob die Methode der Volkszählung und ihre Ergebnisse nur von besonderen Faulpelzen nicht kritisiert wurde. Einer der misslungensten Punkte dabei waren die Angaben über die nationale Zusammensetzung. Den Ergebnissen der Volkszählung zufolge hatten 16,5 Millionen Menschen keine Eintragung in der Spalte „Nationalität.“ Das kann auch eine stark verminderte Kennziffer sein: Die Forscher des Lewada-Zentrums (in Russland als ausländischer Agent eingestuft) bestätigen, dass an der Volkszählung nur 57 Prozent der Einwohner teilgenommen hatten, weil noch Corona herrschte. Der bekannte Demograf Alexej Rakscha meint, „dass man mit der Volkszählung dieses Jahres einfach nicht arbeiten kann, sondern die Ergebnisse einfach wegwerfen sollte.“ Das war seit 1897, als man die Bevölkerung des Russischen Reiches zählte, die schlechteste Volkszählung in der Geschichte Russlands überhaupt, meint der Experte.

Mit den Ergebnissen bezüglich der nationalen Zusammensetzung sind nicht nur die Deutschen äußerst unzufrieden. Die Tataren sind eines der stabilsten Völker im Wolgagebiet. Wohin sind im Verlaufe von zehn Jahren 600.000 Menschen verschwunden? Der Kasaner Journalist Ramis Latypow weilte in tatarischen Siedlungen in Baschkortostan. Nach offiziellen Angaben sind 90 Prozent als Baschkiren eingetragen worden, obwohl sie in Wirklichkeit Tataren sind.

Deutsche auf beiden Seiten der Grenze

In der Realität ist kein demografischer Einbruch bei den Russlanddeutschen zu bemerken. Jelisaweta Graf, die seit Herbst 2022 Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur ist, findet die Ergebnisse der Volkszählung merkwürdig. „Sie haben uns sehr in Erstaunen versetzt. Nehmen wir das Gebiet Omsk, wo ich wohne. Nach der Anzahl der Menschen zu urteilen, die zu den Veranstaltungen in die Begegnungsstätten und konkret ins Kultur- und Businesszentrum in Omsk kommen, hätte die Zahl der Deutschen so hoch wie 2010 sein müssen.“

Deutscher Tanz
Es ist kein demografischer Einbruch bei den Deutschen in Russland zu verzeichnen. (Foto: IVDK)

Das Gebiet Omsk ist nicht nur hinsichtlich seiner deutschen Besiedlung aufschlussreich. Dieses Gebiet grenzt an das benachbarte Kasachstan, wo sich die Deutschen nicht über die Ergebnisse der Volkszählung beschweren. Dort ist die Anzahl der Deutschen sogar offiziell gewachsen. Warum ist das so? Ja, es gibt die Auswanderung Deutscher aus Russland nach Deutschland. Nach Angaben des Bundesverwaltungsamtes haben von 2011 bis 2021 genau 26.619 Personen das Land verlassen. Aber auch aus Kasachstan siedeln die Menschen sogar noch aktiver nach Deutschland über. Ja, es gibt die Prozesse der natürlichen Verminderung der Bevölkerung. Jedoch im vergangenen Jahrzehnt, in den Jahren 2013 bis 2015, war in Russland ein natürlicher Zuwachs der Bevölkerung zu beobachten.

Außerdem sind die Geburtszahlen beiderseits der russisch-kasachischen Grenze ungefähr gleich. Letztendlich ist es für die kasachischen Deutschen gleich schwer wie für die Russlanddeutschen, die deutsche Identität zu bewahren. Es ist für sie sogar schwieriger. Bis 2022 mussten die Kinder in Kasachstan von der ersten Klasse an drei Sprachen lernen – Kasachisch, Russisch, Englisch. Zum Deutschlernen hatten sie keine Zeit mehr übrig. Und bei all dem verzeichnet Kasachstan nach offiziellen Angaben ein Plus von 50.000 Deutschen, Russland ein Minus von 200.000. Viele Demografen schlagen vor, sich an der Volkszählung von 2010 zu orientieren. Die Ergebnisse der Jetzigen und die Prognosen der Experten hinsichtlich dieser Resultate haben keinen Bezug zur wirklichen Anzahl der Vertreter verschiedener Nationalitäten in Russland.

Identitätsmerkmal: Konfession

Mehr als die Volkszählung sagen die Angaben zur religiösen Zugehörigkeit der Einwohner Russlands über die Anzahl der Deutschen in Russland aus. Die Datenbank „Catholic-Hierarchy.org“ beziffert die Anzahl der Anhänger dieser Konfession in Russland auf 789.000. Natürlich stehen hinter dieser Zahl nicht nur Deutsche, sondern auch Ukrainer, Belarussen, Russen und Vertreter anderer Nationalitäten. Aber Deutsche gibt es dort nicht wenige. Genauso wie unter den Lutheranern, deren Anzahl in Russland 170 000 beträgt. Aber es gibt ja noch Baptisten, Mennoniten, die wieder einmal in der Volkszählung nicht als Anhänger einer Konfession, sondern als Volk auftreten. Innerhalb von zehn Jahren hat sich dieses Volk stark vergrößert, von vier Personen 2010 auf fünf im Jahre 2021. Wie kann man solche Zahlen ernst nehmen, wenn in traditionellen mennonitischen Siedlungen wie Apollonowka im Gebiet Omsk oder in Neudatschino im Gebiet Nowosibirsk Hunderte Anhänger dieser Konfession leben? Allein aus den Angaben über die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung Russlands kann man schlussfolgern, dass es weitaus mehr Deutsche im Land gibt. Und bei Weitem nicht alle Deutschen sind religiös. Die darf man auch nicht ignorieren.

Anlass zur Besorgnis

Natalie Pawlik sprach in ihrer Mitteilung von „Ängsten und Enttäuschungen bei den Betroffenen.“ Das Schlechte ist, dass die Ängste wegen irgendeines falschen Ausdrückens des Bekenntnisses nicht nur das Verhältnis zur deutschen Bürokratie betreffen. Die Russlanddeutschen, die eine Absage aus Deutschland bekommen hatten und die in die Redaktion der MDZ gekommen waren, um darüber zu erzählen, sprachen auch über die Folgen der Deklarierung ihrer deutschen Identität in Russland. Unter anderem erklang auch der Ausdruck „sicheres Bekenntnis.“ Wir können keinerlei diskriminierende staatliche Nationalitätenpolitik feststellen. Im Gegenteil: Die Leiter der Föderalen Agentur für Nationalitätenfragen sind häufige Ehrengäste auf allen „ethnischen“ Veranstaltungen, darunter auch den deutschen. Es gibt schon lange keine Eintragungen mehr zur Nationalität in russischen Pässen. Alle sind gleich und alle werden gebraucht. Aber wie man sehen kann, ist die Besorgnis geblieben. Was ist das, historisches Gedächtnis oder psychologisches Ungleichgewicht, hervorgerufen durch die aktuellen Ereignisse? So oder so, darauf sollte man achten und daran arbeiten.

Igor Beresin

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